Kammeroper
heißt nicht: Operchen. Es ist vielmehr – ähnlich dem Verhältnis Kammermusik/Sinfonie – die andere Art, musikalisch auf der Bühne zu reden. Der bewegliche Apparat erlaubt eine komplizierte Stimmenführung. Was bei großer Besetzung einfach konzipiert sein muss, um die Komplexität zu erreichen, die es womöglich meint, das kann in einer Kammerbesetzung schärfer und vielsträhniger formuliert werden. Es ist also das Sujet, das diese Darstellungsart vertragen können muss oder besser: provoziert.
Büchners Lenz
ist eine Zustandsbeschreibung innerhalb eines Zerfallprozesses. Momente einer bereits vollzogenen – aber noch nicht akzeptierten – Verstörung. Diese wird evident an den Berührungspunkten zur Umwelt. Und diese Berührungspunkte wiederum sind es, die Michael Fröhling versuchte, szenisch nachzustellen. Lenz ist immer gleich verstört; nur die Nähe der Umwelt zu dieser Verstörung wächst oder schwindet.
Die musikalische Konsequenz
Aus dieser Zustandsbeschreibung ist eine Stunde extreme Kammermusik. Immer auf dem Sprung in die Hauptperson; eigentlich kein Kommentar, sondern die Hauptperson selbst als vielschichtige Handlungsebene. Obwohl Lenz auf vielen Ebenen handelt oder zu handeln versucht oder zu handeln glaubt, hat er keinen Handlungsspielraum. Deshalb ist er auch eng verwoben in den ihn umgebenden Klang. Die Stimmen, die nur er hört, sind genauso er selbst, wie die beiden Männer, mit denen er zusammenkommt (der liberale Pragmatiker Oberlin und der in jeder Situation „richtig“ handelnde, alerte Kaufmann), die Reaktionen hervorbringen, die er im Innersten wünscht. Die allgegenwärtige Friederike ist ebenso seine Innenwelt wie die Natur; die er gar nicht mehr anders wahrnehmen kann, es sei denn personalisiert – belebt oder tot.
Die Musik steht also immer vor der Aufgabe, sowohl „Situation“ zu motivieren (durch Atmosphäre) als auch psychologische Konstante in einer gespielten Handlung zu sein (durch ein Netz verstrickter Bezüge in sich).
Der kompositorische Prozess
Dezember 1977 bis Juni 1978 – war identisch mit dem stufenweisen Verstehen einer Existenz wie der von Jakob Lenz. Die historische Figur trat, je genauer sie datisch und atmosphärisch in meinem Intellekt anwesend war, aber zurück zugunsten einer Chiffre von Verstörung, als die ich Lenz dann begriff.
Von da aus erklären sich die Versuche, ihm zu nahen, – eingeschlossen: mein Versuch, ihn durch musikalische Darstellung zu interpretieren -, als gescheitert, weil Lenz wesentlich der Scheiternde selbst ist. Darstellbar bleiben nur noch die nackten Stadien dieses Scheiterns – also auch des Scheiterns derer, die Lenz „helfen“ wollen, z. B. – während Lenz selbst bereits in einem festgefahrenen Zustand der vollzogenen Verstörung verharrt. Ich komponierte mich in diesen Zustand, soweit wie mir möglich, hinein. Das Insistieren mancher rhythmischer und harmonischer Konstellationen ist der greifbare Ausdruck für die immer wieder eintretende Starre der Hauptperson. Ein Klang durchzieht das ganze Werk.
Die musikalische Bühne
Ist für mich der Ort des Sehr-Märchenhaften und des Sehr-Menschlichen. In Jakob Lenz schlägt das Menschliche oft ins Märchenhafte um, weil die Realistik einer sich selbst zuredenden, verstörten Seele irreale Züge annimmt, oder wir das einfach nicht anders verstehen können als nicht real. Eine Person wie Jakob Lenz auf der Bühne ist kompliziert allein dadurch, weil sie selbst mehrere Bühnen in sich birgt. Diese ständig präsenten Bühnen muss die Musik repräsentieren. Ich habe dies auf die direkteste Art versucht: die musikalischen Schichten nicht säuberlich getrennt, sondern eben ständig präsent gehalten, bis sie – jeweils ihrer eigenen Dramaturgie gehorchend – hervorbrechen müssen. Im Überblick gewinnt die Großform Züge eines mehrschichtig durchgeführten Rondos; eine Art Rondorelief, weil psychologische Nähe und Ferne musikalisch ja als atmosphärische Relationen perspektivisch ausformuliert werden.
Vor allem gilt: der Faden, an dem Jakob Lenz hängt, ist der Strom ins Herz der Hörer.
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